Die Beichte eines komischen Heiligen

Eine Videoinstallation von Isolde Loock und Wolfgang Stephan Kissel

06.11.2005 - 27.11.2005

Das Theater Čechovs hat bis zum heutigen Tag nichts von seiner weltweiten Faszination eingebüßt. In der Sowjetunion lebten viele Intellektuelle jahrzehntelang mit den Figuren der MÖWE oder des KIRSCHGARTENS, identifizierten sich sogar in hohem Grad mit ihnen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wurden vertraute Sehgewohnheiten und Interpretationen mehr und mehr in Frage gestellt, die Vielschichtigkeit der Dramen neu entdeckt. Umstritten bleibt im Westen wie im Osten, in welchem Maße die unentscheidbaren Ambivalenzen bzw. die symbolischen und/oder absurden Elemente den Realismus der Dramen aufheben.

An diesem Punkt setzt die Zusammenarbeit zwischen der Videokünstlerin Isolde Loock und dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Stephan Kissel an, die dem SZENISCHEN MONOLOG IN EINEM AKT mit dem Titel ÜBER DIE SCHÄDLICHKEIT DES TABAKS gilt: Kann eine Videoinstallation etwas an Čechov aufzeigen, was den Theaterinszenierungen verborgen oder unzugänglich bleibt? Die panische Angst des gescheiterten Intellektuellen Njuchin vor seiner Frau und seinen Töchtern, seine Unfähigkeit, die Tabaksucht, über die er einen pseudowissenschaftlichen Vortrag hält, zu kontrollieren, und seine abgerissene, ausufernde Lebensbeichte werden zum Ausgangspunkt einer intermedialen Reflexion über Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Nach einer möglichen Deutung besteht der Triumph des Gescheiterten (zugleich der Triumph der Kunst Čechovs) im kathartisch-therapeutischen Sprechen über sein Scheitern. So lautet der letzte Satz des Monologs: „Dixi et animam levavi“ („Ich habe gesprochen und meine Seele erhoben“). Denkbar ist angesichts des Schlusses allerdings auch, dass Njuchin nach dem Vortrag in den gewohnten Bahnen weiterlebt und sein Schicksal hinnimmt. Der Ausbruch wäre dann ein sich regelmäßig wiederholendes – folgenloses – Ereignis. Der Gesamtkonzeption läge das Prinzip der Serialität zugrunde, wie es die Avantgarden in Literatur und Musik des 20. Jahrhunderts erproben sollten.

Diese unentscheidbare Ambivalenz der Vorlage übersetzt die Künstlerin in das Medium der Videoinstallation. Dabei entkleidet sie den Einakter seiner theatralischen Aura und reduziert ihn auf einen unbarmherzig bohrenden Blick. Durch diesen Tabubruch gibt der Monolog einen anderen Charakter preis: Er wird zum Vorläufer des monomanischen Sprechens ohne Echo und fügt sich damit ein in die lange Reihe obsessiver Selbstentblößungen der Moderne – bis hin zu den meist folgenlosen öffentlichen Bekenntnissen unserer Gegenwart.

»Ich habe gesprochen und meine Seele erhoben« in zerfließender Graffiti-Schrift an den Wänden (Sprayer: Michael Klauss) unterstreicht die Nähe zu den seriellen Beichten unserer Zeit in Talkshows und Therapiegesprächen.